Von Redaktion: Eva Windhausen Aus der Forschung | Fakten, Service, Infos | Projekte und Unternehmen

Mit dem digitalen Werkzeugkasten „Easy Reading“ Internetseiten leichter lesen und verstehen

Das digitale Hilfsmittel „Easy Reading“ soll Menschen mit Behinderung den Zugang zum Internet erleichtern. Vanessa Heitplatz und Marie-Christin Lueg von der Technischen Universität Dortmund arbeiten im Projekt „EVE4all – Einfach Verstehen für alle“ daran, „Easy Reading“ auch für andere Zielgruppen weiterzuentwickeln. Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen erklären im Interview, wie das Programm die Nutzer:innen von Websites unterstützen kann – und warum Internetseiten trotzdem auch in Zukunft barrierefrei programmiert und gestaltet werden sollten.

Die Funktion „Leselineal“ des Online-Tools Easy Reading, das hier auf einem Laptop aufgerufen wird.

Frau Heitplatz, Frau Lueg, was genau ist „Easy Reading“?

Vanessa Heitplatz: Easy Reading ist ein kostenloses Programm, das Internetseiten vereinfacht und mit weniger Barrieren darstellt. Es ist eine Art digitaler Werkzeugkasten mit verschiedenen Hilfsmitteln. Die Werkzeuge helfen zum Beispiel, wenn jemand die Schrift schlecht erkennen kann, Wörter nicht gut versteht oder sich auf einer unübersichtlichen Seite schlecht zurechtfindet.

Marie-Christin Lueg: Das Besondere ist, dass Easy Reading immer gleich aussieht, unabhängig davon, ob und auf welche Weise eine Internetseite schon barrierefrei gestaltet ist. Die Nutzer:innen müssen sich also nicht erst jede Seite und die dort vorhandenen Werkzeuge und Symbole erschließen, sondern können sich direkt mit den Inhalten beschäftigen. Wenn sie Easy Reading auf ihrem Computer installiert haben, finden sie das Programm-Menü auf jeder Internetseite ganz leicht über ein Chamäleon-Symbol. Klicken sie das an, klappt sich der Werkzeugkasten auf.

Können Sie die einzelnen Hilfsmittel genauer beschreiben?

Lueg: Es gibt zum Beispiel eine Vorlesefunktion für Menschen mit Leseschwäche oder Sehbehinderung. Eine andere Unterstützung ist das Leselineal, das jeweils eine Textzeile hervorhebt, während der Rest etwas abgedunkelt wird. So fällt es Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit einer Sehbehinderung leichter, sich den Text zu erschließen. Wer mit vielen Bildern oder Werbeanzeigen auf einer Internetseite überfordert ist, kann den Lesemodus anklicken. Der Text wird dann zentriert in einer vergrößerten Schrift und mit größerem Zeilenabstand dargestellt, während alle ablenkenden Elemente verschwinden. Und zu schwierigen Wörtern kann man sich eine Erklärung, ein Bild oder ein Symbol anzeigen lassen.

Das Video zeigt kurz die Funktion „Leselineal“ und ein Beispiel für Erklärtexte, die dann erscheinen, wenn mit der Maus über ein erklärungsbedürftiges Wort gefahren wird.

Easy Reading soll also hauptsächlich Menschen mit Lernschwierigkeiten helfen?

Heitplatz: Ja, und deshalb haben wir das Programm auch zusammen mit sogenannten Peer-Forschenden entwickelt, also mit Kolleg:innen aus der Zielgruppe. In der ersten Projektphase, die von 2018 bis 2020 gedauert hat und von der EU gefördert wurde, haben wir mit einem internationalen und inklusiven Forschungsteam daran gearbeitet. Am Anfang haben die Peer-Forschenden uns erklärt, auf welche Hürden sie im Internet stoßen, und wir haben gemeinsam überlegt, was ihnen helfen könnte. Später haben sie ausprobiert, ob die Werkzeuge gut funktionieren.
Einige Hilfsmittel unterstützen nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern zum Beispiel auch Menschen mit Sehbehinderung. Oder Kinder, die gerade lesen lernen und mit einer vereinfachten Darstellung besser zurechtkommen.

Seit August 2022 arbeiten Sie in einem Anschlussprojekt an der Weiterentwicklung Ihres Programms. Was möchten Sie gern noch verbessern?

Heitplatz: Bei den schon bestehenden Werkzeugen untersuchen wir im Rahmen des Anschlussprojekts auch, ob sie für die zusätzlichen Zielgruppen gut funktionieren oder verbessert werden sollten. Wir möchten außerdem herausfinden, für welche weiteren Zielgruppen Easy Reading sinnvoll sein könnte, zum Beispiel für Senior:innen und Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchtgeschichte. Wir haben schon eine Übersetzungsfunktion für verschiedene Sprachen in unseren Werkzeugkasten aufgenommen. Gerade sind Russisch und Ukrainisch sehr wichtig.

Ein Blick in die Zukunft: Müssten Internetseiten demnächst dann überhaupt noch barrierefrei gestaltet sein, wenn alle Menschen Easy Reading nutzen könnten?

Heitplatz: Ja, auf jeden Fall! Unser Programm kann zwar den Zugang zu nicht barrierefreien Seiten erleichtern, es ist aber ausdrücklich kein Ersatz für eine barrierefreie Gestaltung. Die Betreiber:innen von Webseiten müssen zum Beispiel Alternativtexte für dort verwendete Bilder selbst auf der Seite hinterlegen. Das ist von außen nicht möglich. Auf manchen Seiten gibt es außerdem PDF-Dokumente, die nicht barrierefrei sind, aber wichtige Informationen enthalten. Die kann Easy Reading nicht entschlüsseln. Unser Programm kann auch nicht helfen, wenn das Navigationsmenü unübersichtlich aufgebaut ist. Bei all dem sind die Betreiber:innen also weiterhin selbst gefragt.

Lueg: Easy Reading kann aber auch auf bereits leichter zugänglichen Internetseiten eine gute Ergänzung sein. Es kann beispielsweise die Darstellung noch stärker vereinfachen. Den Nutzer:innen hilft außerdem, dass sie das Programm so konfigurieren können, dass sie die benötigte Unterstützung nicht jedes Mal erneut auswählen müssen. Sie können ihre Einstellungen nämlich abspeichern. Wenn sie dann eine neue Website öffnen, müssen sie nur auf das Chamäleon-Symbol klicken und bekommen sofort eine für sie gut zugängliche Ansicht und ihre bevorzugten Hilfsmittel. Das macht den Zugang noch leichter – und so wird noch mehr digitale Teilhabe möglich. —

Über unsere Interviewpartnerinnen

Vanessa Heitplatz

Porträtfoto Vanessa Heitplatz, Easy Reading
Foto: Alena Wiescholek

Geburtsjahr: 1992
Wohnort: Werne an der Lippe
Arbeitsort: Dortmund
Beruf: Wissenschaftliche Mitarbeiterin
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: Wir alle nutzen tagtäglich digitale Medien und das Internet, um uns das Leben zu erleichtern. Kein Mensch kann und darf davon ausgeschlossen werden. Ich möchte durch meine Forschung dazu beitragen, Barrieren zu reduzieren und Teilhabechancen zu vervielfältigen.

Marie-Christin Lueg

Porträtfoto Marie Lueg, Easy Reading
Foto: Lichtrevier

Geburtsjahr: 1997
Wohnort: Dortmund
Arbeitsort: Dortmund
Beruf: Wissenschaftliche Mitarbeiterin
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: Es gibt so viele ungenutzte Potenziale, Menschen eine aktive und selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen, etwa durch den Zugang zu Informationen, Medien oder Technologien. Ich möchte durch meine Arbeit diese Ressourcen und Potenziale nutzbar machen und so Behinderungen entgegenwirken.


Die Zukunft von „Easy Reading“: Träger:in gesucht!

Easy Reading wurde von 2018 bis 2020 im Rahmen eines EU-Projektes entwickelt. Das gerade laufende Anschlussprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt. Deshalb ist Easy Reading derzeit auch noch kostenlos. Im Juli 2024 endet diese zweite Projektphase. Bis dahin soll feststehen, wie sich Easy Reading am besten in vielen Lebensbereichen einsetzen lässt und welche Werkezeuge dafür am besten funktionieren.
Damit das Programm danach jedoch weiterhin für alle kostenfrei bleiben kann, wird derzeit ein neuer Träger gesucht. Denn es kostet Geld, die Technik regelmäßig zu warten und aktuell zu halten. Außerdem sind eine Hotline oder ein kleines Support-Team nötig, damit Nutzer:innen Fragen stellen und Rückmeldungen geben können. Das Programm soll auch auf Messen, in inklusiven Unternehmen oder in Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen noch bekannter gemacht und erklärt werden, damit es die Zielgruppe tatsächlich erreicht.

Kontakt zur Projekteitung:

Dr. habil. Bastian Pelka (Sozialforschungsstelle Dortmund), Anliegen und Fragen zu Trägerschaften: bastian.pelka@tu-dortmund.de

Dr. Susanne Dirks (Fachgebiet Rehabilitationstechnologie, TU Dortmund) – Anliegen und Fragen zu Easy Reading: susanne.dirks@tu-dortmund.de

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