Von Redaktion: Eva Windhausen, Johanne Burkhardt Aus der Forschung | Projekte und Unternehmen

Hoffnung auf bessere Aussichten nach dem Corona-Knick: Das Inklusionsbarometer Arbeit 2021

Was für viele Menschen ohne Behinderung selbstverständlich ist, ist für Menschen mit Behinderung oft viel schwieriger – und in Pandemie-Zeiten besonders problematisch: Eine sichere Arbeit zu finden, die angemessen bezahlt wird und den persönlichen Fähigkeiten entspricht. Die Aktion Mensch untersucht mit dem „Inklusionsbarometer Arbeit“ seit 2013 jedes Jahr gemeinsam mit dem Handelsblatt Research Institute, wie sich die Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entwickelt. Im Interview erklärt Dagmar Greskamp, Referentin für Inklusion und Arbeit, was dieses Jahr anders war als letztes und welche Veränderungen im Jahr 2022 anstehen.

Ein Mann mit Hörgerät an seinem Arbeitsplatz, von hinten auf den Bildschirm fotografiert.

Frau Greskamp, die Aktion Mensch gibt seit 2013 zusammen mit dem Handelsblatt Research Institute jährlich das Inklusionsbarometer Arbeit heraus. Was genau untersuchen Sie damit?

Der Name des Inklusionsbarometers Arbeit sagt es schon: Wir untersuchen die Lage der Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dafür werten wir die Daten der Bundesagentur für Arbeit und der Inklusionsämter aus und setzen diese in ein Verhältnis zueinander. Es gibt dabei zehn Anhaltspunkte, mit denen wir zusammengenommen ein Bild der Situation zeichnen können. Etwa die Arbeitslosenquote, der Anteil an Langzeitarbeitslosen unter Menschen mit Behinderung oder die Quote der Arbeitsplätze, die Arbeitgeber:innen eigentlich gesetzlich verpflichtend mit Menschen mit Behinderung besetzen müssen, es aber oft nicht tun. Das Ziel unserer Studie ist es, verschiedene Ansatzpunkte zu finden, um die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und voranzutreiben.

Ihre Studie aus dem letzten Jahr hat gezeigt, dass Menschen mit Behinderung besonders von der Corona-Pandemie betroffen waren. Von ihnen wurden viele arbeitslos. Jetzt sind wir im zweiten Pandemie-Jahr. Hat sich am Beschäftigungsverhältnis von Menschen mit Behinderung etwas verbessert?

Die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderung ist zwar etwas langsamer angestiegen als bei Menschen ohne Behinderung. Das Problem liegt aber auch an anderer Stelle. Sobald Menschen mit Behinderung einmal arbeitslos geworden sind, suchen sie deutlich länger nach einer neuen Stelle als Menschen ohne Behinderung. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit hier auch so gravierend. Im Inklusionsbarometer 2020 haben wir einige teilweise pandemiebedingte Gründe entdeckt, zum Beispiel wurden befristete Verträge nicht verlängert oder Auszubildende nach der Ausbildung nicht übernommen. Wegen Corona konnten außerdem viele Qualifizierungs- oder Beschäftigungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit nicht stattfinden.

Wie viel länger sind Menschen mit Behinderung durchschnittlich arbeitslos im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung?

Menschen mit Behinderung suchen im Schnitt rund 100 Tage länger nach einer neuen Stelle als Menschen ohne Behinderung. Schon im letzten Jahr waren knapp 70.000 Menschen mit Behinderung mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung. 35.000 davon waren sogar länger als zwei Jahre arbeitslos. Langzeitarbeitslosigkeit war schon vor Corona ein großes Problem. Das verschärft sich nun leider weiter.

Welche Möglichkeiten gibt es für Arbeitgeber:innen, die Lage von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern?

Das ist eigentlich einfach. Sie müssten mehr Menschen mit Behinderung einstellen. Es gibt hierfür viele hilfreiche Angebote und Zuschüsse. Beispielsweise helfen Land und Bund bei den Lohnkosten oder wenn Investitionen anfallen, und es gibt Zuschüsse, um Beschäftigungsverhältnisse zu sichern oder einen Arbeitsplatz passend auszustatten. Letzteres können teilweise auch die Arbeitnehmer:innen selbst beantragen, genauso wie eine Assistenz, die im Arbeitsalltag unterstützt. Auch für Fahrtkosten gibt es Zuschüsse, oder auch Finanzierungsangebote für den behinderungsgerechten Umbau eines Autos. Die Integrationsfachdienste, Arbeitsagenturen und Jobcenter beraten dazu sowohl Arbeitgeber:innen als auch Arbeitnehmer:innen kostenlos.

Es gibt also viele finanzielle Anreize und kostenlose Angebote, die doch eigentlich dazu führen müssten, dass Arbeitgeber:innen mehr Menschen mit Behinderung einstellen. Woran liegt es, dass das insgesamt trotzdem zu selten der Fall ist?

Als Aktion Mensch betreiben wir viel Aufklärungsarbeit in diesem Bereich. Wir haben dabei festgestellt, dass viele Unternehmen und Arbeitgeber:innen gar nicht wissen, welche Fördermöglichkeiten, Unterstützungsleistungen und Beratungsangebote es gibt. Zwar haben wir in Deutschland seit vielen Jahren eine gute Infrastruktur mit Inklusionsberatungen, Integrationsfachdiensten oder den Technischen Beratungsdiensten, die beispielsweise bei der Arbeitsplatzausstattung helfen. Der Zugang soll aber ab nächstem Jahr einfacher werden. Dabei spielt das Teilhabestärkungsgesetz eine wichtige Rolle, das im April 2021 im Bundestag verabschiedet wurde. Es legt unter anderem fest, dass ab Anfang 2022 einheitliche Ansprechstellen in Deutschland geschaffen werden sollen, die Arbeitgeber:innen bei der Ausbildung, Anstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung unterstützen. Das ist eine Entwicklung, die wir als Aktion Mensch begrüßen.

Es gibt noch einen anderen Punkt, der für ein inklusives Arbeitsleben sehr wichtig ist: Die Barrierefreiheit in Betrieben. Wie hat sich das entwickelt?

Die Kostenträger haben in den letzten zehn Jahren auf jeden Fall weniger Geld dafür ausgegeben, Barrierefreiheit in Betrieben zu schaffen, weil das von den Unternehmen offenbar seltener beantragt wird. Das kann natürlich auch daran liegen, dass einige Unternehmen bereits ausreichend Barrierefreiheit geschaffen haben – diese nutzt dann ja auch zukünftigen Beschäftigten mit Behinderung und oft auch den Angestellten ohne Behinderung. Dennoch gibt es hier sicherlich noch Luft nach oben. Insgesamt sollten Unternehmen sich idealerweise nicht erst dann um Barrierefreiheit bemühen, wenn sie einen Menschen mit Behinderung einstellen, sondern schon vorher die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Das umfasst übrigens sowohl bauliche als auch digitale Barrierefreiheit.

Wie lautet ihre Prognose für das Inklusionsbarometer Arbeit 2022?

Laut Prognosen der Wirtschaftsinstitute wird sich der Arbeitsmarkt erst im Laufe des Jahres 2022 erholen. Grundsätzlich bleiben die Trends am Arbeitsmarkt bestehen: Aufgrund des demografischen Wandels sinkt das Fachkräfteangebot, sodass die Chancen für Fachkräfte mit Behinderung steigen.
Die besten Chancen haben Arbeitskräfte im Öffentlichen Dienst, aber auch in der Erziehung, im Gesundheitssektor, im Handel, im Verkehr sowie im Gastgewerbe. Dort zum Beispiel könnten 2022 insgesamt über 400.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. In diesen Wirtschaftszweigen sind schon jetzt rund 45 Prozent der Menschen mit Behinderung beschäftigt, die einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben.
Die Erfahrung lehrt uns allerdings auch, dass sich der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung langsamer entwickelt als für Menschen ohne Behinderung – das gilt während eines Abschwungs genauso wie in Zeiten des Aufschwungs. Dass sich der Arbeitsmarkt erholt, wird sich für Menschen mit Behinderung also positiv auswirken, aber voraussichtlich langsamer als für Menschen ohne Behinderung.

Wenn Sie drei Wünsche frei hätten: Was würden Sie ändern, um das Ergebnis des nächsten Inklusionsbarometers zu verbessern?

Mein erster Wunsch ist, dass die Ausgleichsabgabe deutlich erhöht wird. Das ist der Betrag, den in Deutschland alle Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeiter:innen zahlen müssen, deren Arbeitsplätze zu weniger als fünf Prozent mit Menschen mit Behinderung besetzt sind. Ich würde mir diese Erhöhung zumindest für die Unternehmen wünschen, die derzeit noch gar keine Menschen mit Behinderung beschäftigen.
Zweitens sollten Arbeitgeber:innen künftig viel niedrigschwelliger beraten und begleitet werden als jetzt. Diese Entwicklung erhoffe ich mir aber schon von den bereits genannten einheitlichen Ansprechstellen, die ab nächstem Jahr geschaffen werden sollen. So steht es ja auch im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Ich hoffe, dass die neue Regierung das auch umsetzt.
Und zu guter Letzt brauchen wir noch mehr gute Beispiele und Vorbilder – also mehr Unternehmen, die zeigen und darüber reden, dass und wie Menschen mit Behinderung ihre Stärken am Arbeitsplatz für beide Seiten positiv einsetzen können. So, wie es für Menschen ohne Behinderung ja längst selbstverständlich ist. —

Über unsere Interviewpartnerin

Porträtfoto von Dagmar Greskamp
Foto: privat

Name: Dagmar Greskamp
Geburtsjahr: 1976
Wohn- und Arbeitsort: Bonn
Beruf: Referentin für Inklusion und Arbeit bei der Aktion Mensch
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: ist selbst schwerbehindert (Spastik und Gehbehinderung)

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