Frau Rustige, Sie und Ihr Team haben die „MehrWirkung“- Studie beauftragt. Was war der Antrieb, so eine große Erhebung durchzuführen?
Wir, also die Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen, interessieren uns schon länger dafür, den Zusammenhang zwischen der staatlichen Förderung von Inklusionsunternehmen und den gesellschaftlichen, sozialen und finanziellen Auswirkungen dieser Förderung genauer zu untersuchen. Wir möchten damit herausfinden, welche Rahmenbedingungen künftig nötig sind, um die Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiter voranzutreiben. Für die Grundlagenforschung, die dafür durchgeführt werden müsste, fanden wir in der Politik aber leider keine Unterstützung. Deshalb haben wir uns kurzerhand dazu entschieden, die Studie selbst in Auftrag zu geben.
Warum war es so wichtig, zum von Ihnen genannten Zusammenhang zu forschen?
Weil Inklusionsunternehmen aus unserer Sicht etwas sehr Wichtiges leisten, wir diese Wirkung aber nicht nur behaupten, sondern sie belastbar messen und nachweisen wollen. Schon jetzt haben solche Analysen nämlich einen sehr hohen Stellenwert, in Zukunft werden sie für ganz verschiedene Gruppe aber wohl noch wichtiger werden: für politisch Handelnde, für Geldgeber:innen und Unterstützer:innen, für Verbraucher:innen, aber auch für Unternehmen. Auch für unsere Kommunikation nach innen und außen sind die Ergebnisse der Studie sehr wichtig – und für die Inklusionsunternehmen selbst, die die Ergebnisse gern für ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit nutzen möchten. Dafür bauen wir gerade ein Portal zur eigenen Wirkungsmessung der Betriebe und ein „Gütesiegel“ auf. Dieses soll immer dann vergeben werden, wenn ein Unternehmen bei der Messung bestimmte Mindestkriterien erreicht.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ergebnisse der Studie?
Zuallererst, dass Inklusionsbetriebe wirken, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen. Wir konnten beispielsweise zeigen, dass sich Beschäftigte mit Behinderung in Inklusionsunternehmen in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt fühlen, ein eigenständigeres und unabhängigerer Leben führen können und eine höhere Wertschätzung aus dem Umfeld erfahren. Außerdem wirkt sich die Beschäftigung in einem Inklusionsbetrieb positiv auf ihre seelische Gesundheit aus.
Die Studie zeigt außerdem, dass Inklusionsunternehmen eine Vorbildfunktion haben und so einen weiteren, wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten: Sie machen die Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen sichtbar und tragen damit zur Entstigmatisierung bei. Inklusionsbetriebe entlasten nicht zuletzt auch unsere Sozialsysteme. Das liegt daran, dass durch ihre Wertschöpfung und verschiedene weitere Mechanismen weit mehr Geld wieder in die Sozialversicherungssysteme zurückfließt, als vorher aus den Nachteilsausgleichen vom Staat in die Inklusionsunternehmen hineingegeben wurde.
Über unsere Interviewpartnerin
Name: Claudia Rustige
Geburtsjahr: 1960
Arbeitsorte: Bielefeld und Berlin
Beruf: Diplom-Sozialarbeiterin und Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen e. V. (bag if, seit 2015)
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: engagiert sich schon lange und mit verschiedenen beruflichen Stationen für das Thema Arbeit, Beschäftigung und Qualifizierung von Menschen mit Behinderungen, weil sie der Überzeugung ist, dass berufliche Inklusion der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe ist.
Welche Daten haben Sie in der Studie erhoben?
Zunächst einmal haben wir uns die „harten Zahlen“ angeschaut, also Daten etwa zu den Finanzen der Unternehmen gesammelt. Dazu zählen beispielsweise der Umsatz oder auch Nachteilsausgleiche, die ein Unternehmen vom Staat erhalten hat. Darüber hinaus haben wir geschaut, wie es mit den Arbeitsverhältnissen im Betrieb aussieht: Wie viele Krankheitstage hatten die Beschäftigten? Gibt es befristete Arbeitsverträge, und wenn ja, wie viele? Wie sieht es mit Ausbildungsplätzen aus? Gibt es eine arbeitsbegleitende Betreuung? Wie hoch ist das Durchschnittseinkommen der Belegschaft? Diese Daten haben wir, wo immer es möglich war, mit verfügbaren Kennzahlen von Nicht-Inklusionsbetrieben verglichen.
Sie haben im Rahmen der Studie auch Befragungen durchgeführt. Wen haben Sie zu welchen Themen interviewt?
Wir haben im Rahmen der Studie mit insgesamt 498 Mitarbeiter:innen aus Inklusionsunternehmen mit und ohne Behinderung gesprochen, und zwar zu Themen wie Zufriedenheit, seelischer Gesundheit, Selbstvertrauen, sozialer Einbindung durch die Arbeit, beruflicher Entwicklung, Weiterbildung, finanzieller Unabhängigkeit und selbstständiger Lebensführung. Wir haben außerdem Kund:innen und Auftraggeber:innen der Inklusionsunternehmen in die Studie einbezogen sowie die Inklusionsämter in allen 16 Bundesländern. Aus all dem ist ein einzigartiger Wirkungskompass entstanden.
Haben Sie bei Ihrer Untersuchung auch Bereiche entdeckt, in denen noch etwas verbessert werden müsste?
Ja, wir konnten auch Entwicklungs- und Verbesserungsmöglichkeiten mit unserem Messverfahren sehr gut erkennen. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass bei der Fort- und Weiterbildung sowie bei der Personalentwicklung durchaus noch Luft nach oben ist. Daraus ergibt sich übrigens ein weiterer Vorteil einer solchen Datenerhebung: Wenn wir die Studie in einigen Jahren erneut durchführen, können wir genau messen, ob die Inklusionsunternehmen in diesen Bereichen besser geworden sind.
Wollten Sie auch Nicht-Inklusionsunternehmen mit den Ergebnissen erreichen?
Die Studie war nicht darauf ausgelegt, Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes davon zu überzeugen, dass Inklusion sinnvoll ist oder dass die damit verbundenen Maßnahmen unkompliziert und kostengünstig sind. Nichtdestotrotz liefern manche Ergebnisse der Studie starke Argumente für betriebliche Inklusion. Zum Beispiel, dass Mitarbeiter:innen mit Behinderungen oft besonders loyale Arbeitnehmer:innen sind, die häufig sehr lange im Betrieb bleiben. Oder, dass sich durch im Betrieb gelebte Inklusion bestimmte Kund:innengruppen automatisch angesprochen fühlen, die ihre Kaufentscheidung von sozialen Aspekten abhängig machen. Aber auch – ganz wichtig –, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen keinen negativen Einfluss auf die Qualität der Produkte und Dienstleistungen hat. 99 Prozent der Kund:innen und Auftraggeber:innen sind damit nämlich vollumfänglich zufrieden, das konnten wir in der Studie zeigen. Vielleicht können wir mit diesen Erkenntnissen also tatsächlich auch solche Unternehmen ein wenig überzeugen, die bisher noch einen großen Bogen um das Thema Inklusion gemacht haben.
Über die „MehrWirkung“-Studie
Die Studie wurde von der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen e. V. (bag if) initiiert und aus Eigenmitteln finanziert. Erarbeitet hat sie das Beratungsunternehmen concern GmbH aus Köln, mit Prof. Dr. Dr. Alexander Brink, Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Bayreuth und der FAF gGmbH.
In die Studie waren alle Inklusionsbetriebe in Deutschland einbezogen – mit Ausnahme der Inklusionsabteilungen. Vollständig ausgefüllt haben die Fragebögen insgesamt 112 Unternehmen.
Die Anforderungen an Erhebungen wie die „MehrWirkung“- Studie sind durch unterschiedliche gesellschaftliche Regelwerke festgelegt. Die bag if hat sich bei der Untersuchung an den wichtigsten orientiert, die auf nationaler und europäischer Ebene von verschiedenen Gremien definiert wurden. Hier ist etwa das Sozialgesetzbuch 9 zu nennen, die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention, aber auch weitere soziale internationale Regelwerke – zum Beispiel die „Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen“ (im englischen Original: „Sustainable Development Goals“, kurz „SDG“).
Auf der Basis dieser SDGs wurden für die Studie zehn Felder definiert, in denen sich die Wirkung der Inklusionsunternehmen zeigt: Gesundheit und Wohlergehen, hochwertige Bildung, gute Arbeitsbedingungen, weniger Ungleichheiten, gemeinwohlorientiertes Handeln, soziale Verantwortung, Stiftung von Nutzen, Selbstbestimmung & Unabhängigkeit, volkswirktschaftlicher Nutzen und die Verwirklichung von Inklusion.