Frau Meyer zu Bexten, warum ist digitale Barrierefreiheit so wichtig?
Inklusion hat in unserer modernen, digitalisierten Gesellschaft sehr an Bedeutung gewonnen – und ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch selbst immer digitaler geworden. Damit alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können – egal, ob mit oder ohne Behinderung –, ist es wichtig, dass auch der digitale Raum barrierefrei wird. Hinzu kommen die Auswirkungen des demografischen Wandels: Der Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft steigt und damit einhergehend auch die Zahl der Behinderungen. In Zukunft werden also immer mehr ältere Menschen digitale Angebote nutzen. Um auch sie nicht von der digitalen Welt auszuschließen, ist es sehr wichtig, diese Angebote so zu gestalten, dass alle Menschen sie nutzen können – unabhängig davon, ob diese Personen körperliche, sensorische oder geistige Einschränkungen haben.
Worüber sprechen wir dabei vor allem – über den öffentlichen Raum, über Verwaltung und Behörden oder auch über Unternehmen?
Vor dem Hintergrund des neuen Gesetzes geht es vor allem um die letzten beiden, das wiederum wird sich aber auf die gesamte Gesellschaft auswirken – also auch auf den öffentlichen Raum. Die Verwaltungen haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ohnehin immer stärker digitalisiert, digitale Barrierefreiheit ist für öffentliche Einrichtungen und Behörden schon seit 2018 durch entsprechende Gesetze geregelt und vorgeschrieben. Diese Regelungen sind dieses Jahr aber auch auf Unternehmen ausgeweitet worden, denn hier finden Kommunikation, Austausch, Einkaufen und Freizeitaktivitäten ja ebenfalls überwiegend digital statt – sei es über soziale Netzwerke, Online-Shops oder Streaming-Dienste.
Was genau muss also barrierefrei werden? Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Das Gesetz gilt zum einen bei Produkten wie zum Beispiel Hardware-Systemen für Computer, Laptops, Tablets, Smartphones und so weiter. Zu diesen Gruppe zählen aber auch Selbstbedienungsterminals wie Geldautomaten, Fahrscheinautomaten oder Check-in-Automaten, WLAN-Router, Smart-TVs, E-Book-Reader oder vergleichbare Geräte, die von Konsumierenden genutzt werden. Das Gesetz gilt zum anderen auch bei Dienstleistungen, das wären dann zum Beispiel Webseiten, Apps oder Tickets im öffentlichen Nahverkehr, aber auch Bankdienstleistungen für Konsumierenden, E-Books und die zugehörige Software – oder weitere Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr. Davon abgesehen, dass Unternehmen die gesetzlichen Vorhaben hier ab sofort erfüllen müssen, bietet ihnen das Gesetz auch eine sehr große Chance: Sie können ganz neue Zielgruppen erreichen und die Benutzerfreundlichkeit insgesamt verbessern.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)
Mit dem BFSG wird in Deutschland eine europäische Barrierefreiheits-Richtlinie umgesetzt, und zwar der „European Accessibility Act” (kurz: „EAA“). Diese Richtlinie knüpft eng an die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) an. Die Konvention wiederum hat drei Ziele: Erstens will sie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verbessern, zweitens den europäischen Binnenmarkt stärken und drittens Innovationen und Wettbewerb fördern. Die Umsetzung der UN-Konvention ist in Deutschland das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (kurz: BFSG). Es soll Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen in Deutschland besser am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben lassen – und zwar vor allem durch den Ausbau der digitalen Barrierefreiheit.
Wie wird sichergestellt, dass das Gesetz auch überall eingehalten wird?
Das übernimmt die so genannte Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen (kurz: MLBF) in Sachsen-Anhalt. Diese Stelle führt stichprobenartige Kontrollen durch. Bei Verstößen kann sie Nachbesserungen verlangen oder Bußgelder verhängen. Die zuständigen Behörden in den Bundesländern unterstützen die MLBF dabei. Sie müssen außerdem alle drei Jahre einen Bericht an die EU senden, der den Stand der Umsetzung dokumentiert.
Gibt es konkrete Werkzeuge oder Leitfäden für Unternehmen, die Sie besonders empfehlen können?
Das Landeskompetenzzentrum Barrierefreie IT (LBIT) bietet auf seiner Website dafür extra eine „Umsetzungshilfe“ an. Dort haben wir gemeinsam mit der hessischen Durchsetzungs- und Überwachungsstelle nützliche Infos und Tools zum Thema zusammengestellt. Die Hilfe ist gegliedert nach den verschiedenen Anforderungen, geht also darauf ein, ob es um Webseiten, mobile Apps, PDF-Dokumente, Videos oder die barrierefreie Kommunikation in Mailprogrammen wie Microsoft Outlook geht. Mit diesen Materialien lassen sich Webseiten, digitale Dokumente und mobile Anwendungen effektiv überprüfen und verbessern. Außerdem gibt es auf der Seite einen so genannten Standardanforderungskatalog, der weitere Orientierung bietet. Es gibt nämlich viele verschiedene Regelwerke, um digitale Barrierefreiheit umzusetzen, und aus dieser Vielzahl der Anforderungen müssen Unternehmen diejenigen identifizieren, die speziell auf sie zutreffen. Damit sie diese mühevolle Arbeit nicht vollständig selbst machen müssen, haben wir einen Katalog entwickelt, der bereits eine zuverlässige Vorauswahl trifft.
Gilt das alles auch für sehr kleine Unternehmen?
Das kommt darauf an. Für Kleine und Mittlere Unternehmen (kurz: KMU) hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales spezielle Leitlinien veröffentlicht. Darin wird erklärt, ob ein Unternehmen vom Gesetz betroffen ist und welche Anforderungen konkret gelten. Außerdem sind die zentralen Themen aus dem Gesetz verständlich aufbereitet – und werden mit praxisnahen Beispielen näher erläutert. —
Über unsere Interviewpartnerin
Name: Erdmuthe Meyer zu Bexten
Geburtsjahr: 1962
Wohn-/Arbeitsort: Gießen
Beruf: Professorin für Praktische Informatik, Leiterin der Stabsstelle für barrierefreie IT (LBIT) beim Land Hessen, Beauftragte der Hessischen Landesregierung für barrierefreie IT und digitale Teilhabe
Persönlicher Bezug zum Thema Behinderung: Hat sich schon im Studium mit dem Thema befasst und später auf Reha-Messen und bei Firmen intensiv über Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen informiert. 1997 gründete sie das Zentrum für blinde und sehbehinderte Studierende (BliZ) an der Technischen Hochschule Mittelhessen in Gießen. Das Thema wurde außerdem ein Schwerpunkt in ihrer Lehre – seither beschäftigt sie sich mit digitaler Teilhabe und barrierefreier IT.
