Herr Kuhlemann, wie kamen Sie auf die Idee, ein Unternehmen zu gründen, das Menschen mit Autismus im Beruf unterstützt?
René Kuhlemann: Ich habe einen sehr persönlichen Bezug zu dem Thema, genauso wie Dirk Müller-Remus, mit dem ich das Unternehmen zusammen gegründet habe. Ich bin selbst Asperger-Autist und Dirks Sohn ebenfalls. Dirk und mich hat es sehr beschäftigt, dass so viele Autisten in Deutschland arbeitslos sind – und das, obwohl viele von ihnen überdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten haben. Deshalb haben wir überlegt, wie wir Autisten dabei unterstützen können, ihre Stärken besser zu nutzen und einen Platz im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Dirk hat mit dieser Idee auch schon in seinem ersten Start-Up auticon sehr gute Erfahrungen gemacht, das allerdings eine reine IT-Beratung ist und ausschließlich autistische IT-Consultants beschäftigt. Mit Diversicon wollen wir eine größere Zielgruppe ansprechen, also Autisten, deren Interessen und Talente außerhalb des IT-Bereichs liegen oder die weniger belastbar sind und nicht in wechselnden Projektumfeldern arbeiten können.
Frau Ollech, Sie sind kurz nach der Gründung eingestiegen. Hatten auch Sie vor Diversicon einen so direkten Bezug zum Thema?
Sally Ollech: Nein, für mich war die Auseinandersetzung mit Autismus und Neurodiversität neu. Aber die Idee hat mich damals sofort überzeugt und begeistert. Ich habe außerdem 2012 die Organisation „querstadtein“ mitgegründet, die Stadtführungen durch Berlin und Dresden anbietet, die von obdachlosen und geflüchteten Stadtführerinnen und -führern geleitet werden. Ich hatte also schon Erfahrung mit dem sozialunternehmerischen Ansatz, auf die Ressourcen und Stärken von Menschen zu setzen. Diese Erfahrungen der Organisationsentwicklung bringe ich jetzt bei Diversicon mit ein. René ist der Experte für das Thema Autismus in unserem Geschäftsleitungsteam – das ergänzt sich sehr gut.
Dirk und mich hat es sehr beschäftigt, dass so viele Autisten in Deutschland arbeitslos sind – und das, obwohl viele von ihnen überdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten haben.
Sally Ollech
Wie unterstützen Sie mit Diversicon Menschen mit Autismus konkret bei der Berufswahl und im Beruf?
Ollech: Wir haben unser Angebot in drei Bausteine aufgeteilt. Das erste Element ist die berufliche Orientierung. Wir unterstützen Autistinnen und Autisten in einem achtwöchigen Kurs dabei, ihre Stärken zu erkennen und sich konkrete berufliche Ziele zu stecken. Im zweiten Schritt beraten und begleiten wir die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer während der anschließenden Bewerbungsphase. Und wenn sie eine feste Stelle gefunden haben, bieten wir ihnen als dritten Baustein an, sie mit einem Jobcoaching weiterhin zu begleiten. In Zukunft möchten wir unser Angebot noch erweitern und gezielt Schülerinnen und Schüler beim Übergang in den Beruf unterstützen. So könnten künftig mehr junge Menschen im Autismus-Spektrum direkt nach dem Schulabschluss auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen und einen Beruf wählen, der gut zu ihnen passt.
Kuhlemann: In der Bewerbungsphase schalten wir uns auch aktiv ein, indem wir auf die potentiellen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zugehen. Die dadurch entstehenden direkten Kontakte zwischen Firmen und Bewerberinnen und Bewerbern wären anders oftmals nicht zustande gekommen. Ein wichtiger Teil unseres Konzeptes ist es auch, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu beraten und dabei zu unterstützen, vielfältigere Teams in ihren Firmen aufzubauen. Und wir informieren und sensibilisieren die Arbeitsagenturen und Jobcenter für das Thema. In Zukunft wollen wir noch mehr tun und eine autismusspezifische Sozial- und Teilhabeberatung aufbauen.
Wer darf Ihre Angebote nutzen?
Kuhlemann: Grundsätzlich alle Menschen im Autismus-Spektrum. Bisher hatten wir Teilnehmerinnen und Teilnehmer von 19 bis 54 Jahren dabei, es gibt also in keine Richtung eine Altersbegrenzung. Wer möchte, kann sich online mit ein paar Angaben zu ihrer oder seiner Person und zum bisherigen Werdegang bewerben. Es ist übrigens nicht zwingend nötig, eine Diagnose einzuholen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie lang die Wartezeiten bei den verschiedenen Diagnosestellen oft sind, außerdem möchte ja auch nicht jede und jeder die Tests und Untersuchungen dafür machen. Unser Ansatz ist es deshalb, nach der Anmeldung zum Kurs erst einmal ausführlich mit jeder Interessentin und jedem Interessenten zu sprechen. Wir möchten sie so kennenlernen und können danach besser einschätzen, ob ein Kurs bei Diversicon sie weiterbringen kann oder nicht. Entscheidend ist auch, ob jemand motiviert an die Sache herangeht und ob sie oder er in eine Kursgruppe passt.
Was kosten Ihre Kurse und Coachings und wo finden sie statt?
Ollech: Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind unsere Leistungen kostenlos. Je nach Zuständigkeit werden die Kurse, Beratungen und Coachings durch die Agentur für Arbeit, das Jobcenter oder die Rentenversicherung finanziert. Allerdings gibt es uns bisher nur in Berlin. Grundsätzlich können sich zwar gerne auch Interessentinnen und Interessenten aus anderen Bundesländern zu unseren Kursen anmelden und sie werden dabei in der Regel auch vom zuständigen Träger unterstützt. Doch da unser Kurs zwei Monate dauert, müssen Teilnehmerinnen und Teilnehmer von außerhalb für diese Zeit eine Unterkunft in Berlin finden. Das ist leider nicht allen möglich. Mittelfristig wollen wir unsere Kurse und die Jobvermittlung aber auch in anderen Regionen Deutschlands anbieten.
Es ist nicht zwingend nötig, vor der Anmeldung zu unseren Kursen eine Autismus-Diagnose einzuholen. Wir sprechen vorher einfach ausführlich mit jeder Interessentin und jedem Interessenten.
René Kuhlemann
Ihr Ansatz ist es, auf die Stärken von autistischen Menschen zu schauen. Welche sind das?
Kuhlemann: Dazu gibt es einen schönen Satz aus der Community: „Kennst Du einen Autisten, kennst Du einen Autisten.“ Wie alle Menschen haben also auch Menschen im Autismus-Spektrum sehr individuelle und unterschiedliche Fähigkeiten. Es gibt dennoch einige Stärken, die tatsächlich bei fast allen vorhanden sind. Zum Beispiel haben die meisten Autistinnen und Autisten ein hohes Qualitätsbewusstsein und einen guten Blick für Details. Dadurch können sie Zusammenhänge und Muster oft besonders schnell erkennen. Auch ein intuitives Verständnis für technische Systeme kommt häufiger vor – und manche sind in den Bereichen Entwicklung und Design besonders gut.
Ollech: Menschen im Autismus-Spektrum nehmen viele Dinge etwas anders wahr als ihre Kolleginnen und Kollegen. Dadurch kommen sie oft auf neue und ungewöhnliche Lösungen. Die moderne Arbeitswelt braucht solche Querdenkerinnen und Querdenker, um innovativ und effizient arbeiten zu können und sich für die Zukunft aufzustellen.
Welche Branchen und Berufe passen besonders gut zu diesen Fähigkeiten?
Kuhlemann: Das hängt ganz davon ab, was unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer können und wollen – und was potentielle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber suchen und anbieten können. Wir stecken immer zuerst mögliche Aufgabenfelder ab, die zu den individuellen Stärken der Teilnehmenden passen. Das können zum Beispiel Bereiche wie Recherche und Analyse oder Strukturierung und Optimierung sein. Oft ist auch die Fähigkeit gefragt, anspruchsvolle Soll-Ist-Abgleiche durchzuführen, oder ein ausgeprägtes kreativ-künstlerisches Talent. Im zweiten Schritt suchen wir nach passenden Berufen. Dabei denken wir immer branchenübergreifend. Unsere Kurs-Absolventinnen und -Absolventen haben so schon in ganz verschiedenen Bereichen Arbeit gefunden, zum Beispiel im öffentlichen Dienst, im Grafikbereich, bei einer Sicherheitsfirma, in der technischen Gebäudeausstattung, in der Wissenschaft oder im Bereich Erneuerbare Energien.
Gibt es auch Berufe, die gar nicht für Autisten geeignet sind?
Ollech: Das werden wir auf Veranstaltungen oft gefragt. Pauschal lässt sich aber auch das nicht beantworten. Jeder Autist, jede Autistin ist eben anders. Daher schließen wir erstmal keinen Berufswunsch aus, nicht mal Mitarbeit im Vertrieb – das ist sicherlich kein klassisches Tätigkeitsfeld für die Mehrheit der Autistinnen und Autisten. Aber ich kenne einen Autisten, der unglaublich guten Vertrieb für seine Idee macht und einfach selber Unternehmer geworden ist. Die Tendenz ist, dass es meistens dann nicht gut passt, wenn Ehrlichkeit und Offenheit in einem Job nicht erwünscht sind. Viele Autistinnen und Autisten haben nämlich ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und für sie ist Ehrlichkeit sehr wichtig.
Welche Rahmenbedingungen müssen Unternehmen schaffen, damit Autistinnen und Autisten gut arbeiten können?
Kuhlemann: Auch das ist sehr verschieden, und wir erleben in unseren Kursen immer wieder, dass es da kein Patentrezept gibt. Deshalb klären wir das bei jeder Job-Vermittlung individuell ab. Einige Beispiele: Viele unserer Kandidatinnen und Kandidaten bevorzugen ein reizarmes Umfeld. Sie mögen kein grelles Neonlicht und wollen auch keinen unruhigen Arbeitsplatz direkt am Gang oder in einem Großraumbüro. Wenn sich das nicht vermeiden lässt, der Job ansonsten aber gut passt, können Rückzugsmöglichkeiten oder geräuschunterdrückende Kopfhörer schon eine Lösung sein. Einige wünschen sich in ihren Berufen wenig oder gar keinen Kundenkontakt, weil soziale Interaktionen sie sehr anstrengen. Andere wiederum können sich das durchaus vorstellen und mögen es sehr, anderen Sachverhalte zu erklären, die sie interessieren.
Ollech: Struktur und Eindeutigkeit sind ebenfalls sehr wichtig. Deshalb sollten im Unternehmen sämtliche Abläufe, Aufgaben und Ansprechpartnerinnen und -partner klar definiert sein. Das klingt banal, ist im Arbeitsalltag aber oft eine Herausforderung. Die meisten Menschen reden zum Beispiel oft in Konjunktiven und Floskeln, ohne es zu merken. Für Autistinnen und Autisten sind die „versteckten“ Botschaften und Dinge „zwischen den Zeilen“ schwer zu entschlüsseln. Abhilfe schafft eine möglichst klare und direkte Sprache. Vielfalt in einem Team setzt unserer Erfahrung nach einerseits große Potenziale frei, bedeutet aber eben auch Arbeit. Es ist daher wichtig, dass die Teamleiterinnen und -leiter eines Unternehmens dazu bereit sind, ein inklusives, diverses Team zu führen, und das gesamte Kollegium offen und empathisch auf die neuen Perspektiven zugeht, die da ins Team kommen.
Über unsere Interviewpartner:innen
René Kuhlemann
Geburtsjahr: 1975
Wohn-/Arbeitsort: Berlin
Beruf: Gründer und Geschäftsführer von Diversicon
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: ist selbst Asperger-Autist und hat langjährige Erfahrung aus der Unternehmensberatung
Sally Ollech
Geburtsjahr: 1983
Wohn-/Arbeitsort: Berlin
Beruf: Mitglied der Geschäftsleitung bei Diversicon
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: hat Freude an Vielfalt und langjährige Erfahrung als Sozialunternehmerin
Für die Region Westfalen-Lippe: Angebote und Unterstützung für Autistinnen und Autisten
Auch der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) berät und unterstützt Menschen im Autismus-Spektrum. Hier haben wir die wichtigsten Angebote und Anlaufstellen nach Situationen und Lebensbereichen für euch aufgelistet:
⸺ Diagnose und Beratung: Die Autismus-Ambulanz der LWL-Klinik Dortmund ist eine der wenigen Ambulanzen in Deutschland, die nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene Diagnosen stellt. Wer möchte, kann sich hier in einer Spezialsprechstunde beraten lassen und wird bei Bedarf an andere Anlaufstellen weitervermittelt.
⸺ Wohnen: Autistinnen und Autisten, die Schwierigkeiten mit der Organisation des Alltags haben, können sich in einer Wohngruppe für Menschen im Autismus-Spektrum dabei unterstützen lassen. Dieses Angebot des LWL-Wohnverbunds Marsberg richtet sich vor allem an Jugendliche und junge Erwachsene. In der Wohngruppe können bis zu acht Personen leben. Darüber hinaus bietet auch das LWL-Inklusionsamt Soziale Teilhabe Plätze in Wohngruppen an.
⸺ Arbeit: Ansprechpartner zu allen Fragen rund um das Thema „Autismus und Arbeit“ sind die Integrationsfachdienste, die im Auftrag des LWL arbeiten. In 20 regionalen Anlaufstellen beraten und unterstützen sie Menschen mit Behinderung und Menschen im Autismus-Spektrum, die eine Arbeitsstelle suchen. Bei Bedarf begleiten die Fachkräfte auch im Berufsleben weiter. Sie sind in den Kreisen und kreisfreien Städten der Region gut vernetzt und kennen dort potentielle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Sie beraten auch die Unternehmen zum Beispiel dabei, einen Arbeitsplatz optimal auszustatten.
Auch mit einem Jobcoaching des LWL-Inklusionsamtes Arbeit können sich Menschen im Autismus-Spektrum und Menschen mit Behinderung im Beruf begleiten lassen. Jobcoaches besuchen regelmäßig den Arbeitsplatz, unterstützen im Berufsalltag und vermitteln bei Bedarf zwischen der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer, dem Unternehmen und den Kolleginnen oder Kollegen. Das kann vor allem dann sehr hilfreich sein, wenn das Arbeitsverhältnis gerade erst begonnen oder wenn es Veränderungen im Betrieb gegeben hat.
Das Jobcoaching und die Begleitung durch die Integrationsfachdienste sind Unterstützungsangebote für Menschen mit einer Schwerbehinderung oder einer Gleichstellung.