Siemens ist eines der zehn größten Unternehmen in Deutschland. Der Konzern erfüllt die gesetzliche Quote, nach der Firmen ab 20 Mitarbeitern mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen besetzen müssen, die eine Behinderung haben. Was sonst noch mit dem Thema „Diversity“ verbunden ist und was die Inklusion in der Firmenpolitik von Siemens für eine Rolle spielt, wollten wir von Nicole Herrfurth wissen, die bei Siemens für „Leadership Development, Diversity and Inclusion“ verantwortlich ist (übersetzt: „Führungskräfte-Entwicklung, Vielfalt und Inklusion“).
Frau Herrfurth, eine aktuelle Zahl zum Einstieg: Im Jahr 2016 waren 13,4 Prozent aller Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland arbeitslos, das sind mehr als doppelt so viele im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür?
Eines der Probleme ist, dass viele Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter oftmals keinen allgemeinen Schulabschluss haben. Die Ursache dafür liegt wiederum im Bildungssystem: Solange Inklusion in der Schule und bei der Ausbildung nicht die Normalität ist, wird es auch auf dem Arbeitsmarkt Probleme geben. Menschen mit und ohne Behinderungen werden heute noch immer getrennt voneinander unterrichtet. Es gibt also nicht einen großen, gemeinsamen Lernraum, sondern viele Einzelsysteme wie Sonderschulen, Förderschulen und Werkstätten. Das führt leider dazu, dass Menschen, die dort unterrichtet werden oder arbeiten, bereits in jungen Jahren und auch später von bestimmten Bildungs- oder Berufswegen ausgeschlossen werden. Dadurch kommt es zu Ausgrenzung – und das Risiko, arbeitslos zu werden oder zu bleiben, steigt. Das Schulsystem muss sich also noch intensiver mit dem Thema Vielfalt beschäftigen und dieses Prinzip so früh wie möglich fördern.
Ein weiteres Problem sehen wir darin, dass es an barrierefreien Lösungen mangelt. Das ist sowohl firmenpolitisch als auch infrastrukturell ein Thema, und es betrifft die „reale Welt“ genauso wie die Barrieren, die es noch immer in den Köpfen gibt.
Welchen Beitrag leistet Ihr Unternehmen im Bereich Inklusion?
Wir achten zuallererst darauf, die gesetzlichen Regelungen zu befolgen, zum Beispiel bei Themen wie Sonderurlaub und Kündigungsschutz. Außerdem liegt uns natürlich die barrierefreie und flexible Gestaltung unserer Arbeitsplätze am Herzen. Wir versuchen, diese Umgebungen den Menschen anzupassen und nicht umgekehrt. Bei Siemens gibt es zudem ein Gleitzeitsystem, mit dem unsere Mitarbeiter ihre Arbeitszeiten relativ frei gestalten können. Das gleiche gilt für den Arbeitsort: Das „Home Office“ ist bei uns nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern gehört mittlerweile zum Alltag, für Menschen mit oder ohne Behinderung. Auch das Thema Mobilität ist für uns ein Teil der Inklusion. Wir bieten unseren Mitarbeitern mit Schwerbehinderung daher nicht nur Behindertenparkplätze, sondern ermöglichen es ihnen bei Geschäftsreisen auch, in der ersten Klasse Bahn zu fahren beziehungsweise mit der Business Class zu fliegen. Wir wollen damit sicherstellen, dass unsere Mitarbeiter so unbeschwert und komfortabel wie möglich arbeiten können. Und wir legen Wert auf verschiedene betriebliche Maßnahmen, wie eine konstante Weiterbildung, bezahlte Freistellungen und eine gute gesundheitliche Versorgung, die wir unter anderem über unsere Betriebskrankenkasse anbieten.
Wie hoch ist bei Siemens die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung und in welchen Bereichen werden sie eingesetzt?
Bei Siemens in Deutschland sind derzeit 6.200 Menschen mit Behinderungen, teilweise mit schweren Handicaps, beschäftigt. Das entspricht einer Quote von etwa 5,2 Prozent. Viele der Mitarbeiter sind auf unsere Standorte in Erlangen, Nürnberg und Berlin verteilt, sie werden je nach Fähigkeiten und Interessen in allen Abteilungen eingesetzt und arbeiten in ganz unterschiedlichen Funktionen und Abteilungen. Außerdem kooperieren wir viel mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung: Siemens hat allein im vergangenen Geschäftsjahr Aufträge in Höhe von rund 14 Millionen Euro an solche Einrichtungen vergeben.
Wie wird Ihr Unternehmen in Zukunft mit dem Thema Inklusion und Vielfalt umgehen?
Bei uns stehen Leistung und Behinderung schon jetzt nicht im Widerspruch zueinander. Im Gegenteil: Wir sehen täglich, dass es oft gerade die Mitarbeiter mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen sind, die die „Extrameile“ gehen. Durch ihre Ausdauer, Beharrlichkeit und Motivation bringen sie sich voll und ganz ins Unternehmen ein und meistern dabei auch viele Hürden. Wir sehen diese Mitarbeiter daher nicht in erster Linie als Menschen mit Behinderung, sondern als Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Von diesen Eigenschaften könnten sich Menschen ohne Behinderung oftmals eine Scheibe abschneiden. Im letzten Dezember haben wir dazu passend einen „Ability Day“ in der Siemens-Zentrale in München veranstaltet. Der Tag stand unter dem Motto „Sport“ und sollte dazu aufrufen, die Fähigkeiten jedes Einzelnen wert zu schätzen. Diesen besonderen Tag würden gerne dauerhaft etablieren und gegebenenfalls zusammen mit anderen Unternehmen gestalten, um möglichst viele Menschen von dieser Botschaft zu überzeugen.
Vielfalt sollte aus unserer Sicht kein isoliertes Sonderthema bleiben, sondern ganzheitlich in allen Prozessen eines Unternehmens verwurzelt werden. Wir selbst haben deshalb unter anderem die Charta der Vielfalt unterschrieben und wollen diese Idee damit weiter nach vorne bringen.
Wer oder was sind aus Ihrer Sicht die größten „Inklusions-Bremsen“ unserer Gesellschaft?
Es gibt leider viele dieser „Bremsen“, wir glauben aber, dass die größten Hürden die Barrieren im Kopf sind. Wir nennen diese Hürden „Unconscious Bias“, also Vorverurteilungen und Denkmuster, die bei vielen Menschen vorhanden sind und sich im Unterbewusstsein abspielen. Wenn zum Beispiel jemand im Rollstuhl in den Raum kommt, sehen viele erst einmal nur die Behinderung, nicht die Persönlichkeit, die Fähigkeiten und die Qualifikationen des Menschen. Das geht zum Teil so weit, dass viele unbewusst davon ausgehen, dass ein Mensch mit Behinderung nicht wirklich arbeiten kann, nicht so belastbar ist oder auch weniger Fähigkeiten hat. Auch bei der Suche nach neuen Mitarbeitern spielt das immer noch eine große Rolle, denn das Kompetenzprofil wird von Recruiting-Mitarbeitern viel schneller außer Acht gelassen, wenn ein Bewerber eine Behinderung hat. Diese unbewussten Prozesse, die sich überall in unserer Gesellschaft zeigen, müssen wir im Kern auflösen.
Bei Siemens konzentrieren wir uns daher auf das Individuum und dessen Fähigkeiten. Diesen Ansatz wollen wir auch in Zukunft weiterhin verfolgen und stärker nach außen kommunizieren – daraus entstand auch unsere Idee zum „Ability Day“. –