Anke, wie bist du auf die Idee gekommen, eine inklusive App zu entwickeln?
Durch meinen Sohn Lasse. Er hat das Down-Syndrom, ist neun Jahre alt und besucht eine Regelschule in Hamburg. Er spricht noch unverständlich, deshalb brauchen er und seine Mitschülerinnen und Mitschüler viel Geduld, um sich miteinander zu verständigen. Im Moment müssen die anderen Kinder häufig Lasses Sprachcomputer zu Hilfe nehmen, oder sein Schulbegleiter muss für ihn dolmetschen. Das ist eine große Barriere, die die anderen Kinder frustriert und Lasse oft traurig macht. Seine Sonderpädagogin hat deshalb damit angefangen, mit der ganzen Klasse Gebärden der Deutschen Gebärdensprache zu lernen.
Und um das zu unterstützen, entwickelt ihr die EiS-App?
Genau, denn mein Sohn braucht für alles, was er lernen will, mehr Wiederholungen als seine Mitschüler. Im Schul- oder Familienalltag lässt sich dieses zeitintensive Lernen nicht immer in dem Umfang unterbringen, den er benötigt. Lasse wiederholt Lerninhalte aber sehr gern für sich allein und in seinem Tempo, am liebsten mit Videos. Er schaut sie sich immer wieder an und ahmt sie nach. Ich wollte ihn beim Gebärdenlernen mit Videos unterstützen, habe aber keine adäquate kindgerechte Software gefunden.
Wie bist du an das Projekt herangegangen?
Ich habe meine Idee 2017 beim Hackathon „Die Zukunft der Bildung“ vorgestellt. Das war ein Wettbewerb der Wochenzeitung „DIE ZEIT“, der sich um Bildung im Zeitalter der Digitalisierung drehte. Dort habe ich mein Team kennengelernt: Luisa Heinrich, Marcus Willner, Ron Drongowski und Saskia Heim.
Luisa kümmert sich als Grundschullehrerin – mit viel Erfahrung in Inklusionsklassen und mit Kindern mit Migrationshintergrund – gemeinsam mit mir um das Inhaltliche und Pädagogische. Marcus ist Entwickler und Geschäftsführer der tapLab GmbH, er kennt sich mit Softwareentwicklung aus. Ron leitet die Backend-Entwicklung bei ZEIT ONLINE. Die beiden kümmern sich um die Programmierung der App. Saskia leitet das Team Bildungsmarketing im ZEIT-Verlag und übernimmt zusammen mit mir die Aufgabe, die App bekannt zu machen und zu vertreiben. Es war ein echter Glücksfall für mich, so ein tolles Team zu finden. Gemeinsam haben wir den Hackathon gewonnen. Damit hatten wir ein Startkapital.
Wie funktioniert die App und wie ist sie aufgebaut?
Wir haben eine Basis-Version entwickelt, die rund 200 Begriffe enthält. Jeder diese Begriffe ist in vier Varianten in der App hinterlegt: als geschriebenes Wort, als METACOM–Symbol, als Audio-Datei und als Gebärden-Video. So haben die Kinder unterschiedliche Zugänge und können zum Lernen die Variante wählen, mit der sie am besten kommunizieren können. Zugleich ist die App sehr einfach und klar strukturiert. Auch Kinder mit kognitiven Einschränkungen können sie leicht bedienen und nutzen. Überhaupt kann jeder mit dem Programm einen Grundwortschatz an Gebärden lernen, egal ob sie oder er besser lesen, schreiben, hören oder sprechen kann.
Und wie habt ihr die Begriffe ausgewählt, die in der Basis-Version enthalten sind?
Wir haben uns an der Arbeit von Prof. Dr. Jens Boenisch und Dr. Stefanie Sachse orientiert. Die beiden Wissenschaftler von der Uni Köln haben herausgefunden, dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung in 80 Prozent ihrer Unterhaltungen nur rund 200 Wörter verwenden. Wir haben uns also auf genau diese Begriffe konzentriert. Das sind zum Beispiel Worte wie „ich“, „du“, „wollen“, „können“ oder „nicht“. Die komplexe Grammatik der Deutschen Gebärdensprache können wir dabei allerdings nicht abbilden, die sollte man sowieso von Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern lernen. Einige Landesverbände des Deutschen Gehörlosen-Bunds und viele Volkshochschulen bieten dazu entsprechende Kurse an.
Die App richtet sich also speziell an Kinder?
Ja, sie ist als Alltagshilfe für Kinder gedacht, die unterstützt kommunizieren, also eine Ergänzung zur Lautsprache brauchen. Wir möchten aber auch Kinder unterstützen, die Deutsch als Zweitsprache lernen, Sprachentwicklungsverzögerungen haben oder sich einfach noch nicht trauen, zu sprechen. Auch ihre Familien und Freunde können so einen Grundwortschatz an Gebärden erlernen. Und natürlich Erzieherinnen, Assistenten und alle anderen, die diese Kinder beim Lernen begleiten.
Wie erreicht ihr diese junge Zielgruppe?
Wir wenden uns mit unserem Angebot vor allem an Kitas und Schulen. In Hamburg haben wir schon ein gutes Netzwerk aufgebaut, stehen in Kontakt zu Kitaträgern und auch zur Schulbehörde. Von Hamburg aus wollen wir dann bundesweit wachsen. Im Mai werde ich die EiS-App beim Sonderpädagogischen Kongress in Weimar vorstellen, und das Lehrerinstitut in Hamburg hat uns kürzlich zu einer Tagung zur Unterstützten Kommunikation eingeladen.
Zwei Wissenschaftler der Uni Köln haben herausgefunden, dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung in 80 Prozent ihrer Unterhaltungen nur rund 200 Wörter verwenden. Wir haben uns bei unserer App also auf genau diese Begriffe konzentriert.
Anke Schöttler über den Grundwortschatz an Gebärden, den Kinder mit der EiS-App lernen können
Können Eltern die App schon für ihre Kinder herunterladen?
Nein, noch nicht, wir sind nämlich gerade erst mit der Testphase fertig. Dafür haben wir ausführlich mit den unterschiedlichsten Expertinnen und Experten zusammengearbeitet, zum Beispiel mit Kindern, Eltern, Sonderpädagogen, Therapeutinnen, Schulbegleitern und Fachleuten für Unterstützte Kommunikation. Sie haben die App durchgetestet. Das Feedback war toll: Sie haben bestätigt, dass die EiS-App eine echte Alltagshilfe sein kann. Dieser erste Prototyp, mit dem die Tester gearbeitet haben, ist eine Web-App. Jetzt entwickeln Marcus und Ron die Versionen für iOS und Android. Wir wollen die Basis-Version der EiS-App Ende des ersten Quartals 2019 in die App-Stores und damit auf den Markt bringen.
Wird die App etwas kosten?
Ja, denn wir wollen sie ja langfristig anbieten und weiterentwickeln. Im Moment arbeiten wir komplett ehrenamtlich und finanzieren die gesamte Entwicklungsarbeit über die Preisgelder, die wir bisher gewonnen haben. Das ist auf Dauer kein tragfähiges Modell.
Einer der Wettbewerbe, die ihr gewonnen habt, war die Digital Imagination Challenge 2018. Welche Impulse habt ihr aus dem Innovations-Wettbewerb mitgenommen?
Sehr viele! Zunächst einmal hat uns das positive Feedback der anderen Finalisten, der Coaches und der Jury gezeigt, dass unser Engagement eine große gesellschaftliche Wirkung haben kann. Es geht bei der EiS-App ja nicht nur um die Situationen im Alltag, in denen die Software Kindern dabei hilft, sich zu verständigen. Wir sensibilisieren Kinder mit und ohne Behinderung auch für eine inklusive Gesellschaft. Sie lernen mit Hilfe der App, wie vielfältig Kommunikation sein kann – und mit dieser Erkenntnis können sie auch die Erwachsenen „anstecken“.
Das achtwöchige Support-Programm der Challenge wiederum hat uns praktisch sehr weitergebracht. Wir haben damit unser Projekt besser strukturiert und unsere Business-Beraterin hatte auch viele gute Ideen und Anregungen für uns. Wie kalkulieren wir zum Beispiel den finanziellen Aufwand, der nötig ist, um die App nachhaltig zu betreiben? Welche Investoren könnten wir gewinnen? Welche Fördertöpfe sind für uns interessant? Das hat uns sehr inspiriert und motiviert, weiterzumachen.
Wie wollt ihr die Basis-Version der App in Zukunft erweitern?
Da haben wir schon sehr viele Ideen. Wir möchten ein Memory, ein Quiz oder andere Spiele einbauen, mit denen Kinder die gelernten Begriffe spielerisch einüben und festigen können. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen in der App später auch einen eigenen Wortschatz anlegen und eigene Videos integrieren können. Wir denken außerdem darüber nach, eine Augensteuerung für die App zu entwickeln, damit auch motorisch eingeschränkte Kinder sie nutzen können. Und das Programm soll Screenreader-fähig werden, damit Menschen mit Sehbehinderung sich die Inhalte von einer entsprechenden Software vorlesen lassen können. Sie können damit zwar keine Gebärden lernen, weil man die Handbewegungen tatsächlich sehen muss, um sie nachzuahmen. Aber die App kann trotzdem die Kommunikation zwischen blinden Kindern und Kindern mit Sprachschwierigkeiten erleichtern, weil die Wörter ja auch als Audio-Datei hinterlegt sind. So finden dann wirklich alle eine Möglichkeit, sich miteinander zu verständigen.
Über unsere Interviewpartnerin
Name: Anke Schöttler
Geburtsjahr: 1974
Wohn-/Arbeitsort: Hamburg
Beruf: Projektmanagerin bei der dpa-Tochter „news aktuell“
(Persönlicher Bezug zum Thema) Behinderung: Ihr Sohn Lasse hat das Down-Syndrom, der ihr den Blick darauf geöffnet hat, was es bedeutet, in unserer Gesellschaft mit einer Behinderung zu leben. Mit der EiS-App möchte sie einen Beitrag dazu leisten, dass Kinder inklusiv lernen können. Sie hofft, dass so vielleicht auch den Erwachsenen die Scheu davor genommen wird, auf Menschen zuzugehen, die nicht der allgemeinen Norm entsprechen.
Die Digitial Imagination Challenge
Der Wettbewerb fördert technologische Innovationen, die für zur gesellschaftlichen Inklusion von Menschen mit Behinderung beitragen. Die Challenge wurde 2017 vom Verein Sozialhelden e. V., Unitymedia und dem ImpactHub Berlin das erste Mal ausgerufen. In der zweiten Ausgabe 2018 bewarben sich knapp 25 Teams aus ganz Deutschland mit ihren Start-ups, Organisationen und Initiativen – darunter auch Anke Schöttler mit der EiS-App. Sie kam unter die fünf Finalisten und gewann den mit 15.000 Euro Fördergeld dotierten Wettbewerb. Schon vorher durfte sie mit der Unterstützung von Experten des Impact Hub Berlin an ihrem Projekt weiterarbeiten, einem Netzwerk für soziale Innovationen und soziales Unternehmertum. Außerdem wurden und werden alle Finalisten nach dem Wettbewerb von drei Unitymedia-Führungskräften weiter unterstützt, die die jungen Unternehmerinnen und Unternehmer als Mentoren beraten und begleiten.